„Lassen Sie mal fünf gerade sein“
Die Journalistin und Autorin Nora Imlau gastierte am vergangenen Freitag an der Urspringschule. Rund 200 Interessierte waren gekommen, mehrheitlich Frauen, da die Ratgeber-Autorin und Familienexpertin für ihre Empfehlungen schon länger bekannt ist. Nora Imlau ist Kolumnistin bei der Süddeutschen Zeitung, der Zeitschrift „Eltern“, im MDR-Fernsehen und als Referentin gefragt. Die Medien-, Sprach- und Literaturwissenschaftlerin ist Autorin von mehr als einem Dutzend Ratgeberbüchern mit Familienthemen, auch einiger „Spiegel“-Bestseller, und Kinderbüchern. Die 41-Jährige ist Mutter von vier Kindern zwischen 5 und 18 Jahren. Weshalb sie in ihrem Vortrag auch immer wieder aus dem eigenen Nähkästchen plauderte und über Erfahrungen aus ihrer Familie berichtete.Nora Imlau nahm kein Blatt vor den Mund mit ihren praxisnahen Beispielen und Anregungen und berichtete leidenschaftlich über das von ihr sogenannte „echte Lebensthema“ Familie. Sie kritisierte Familienratgeber: „Vieles, was man liest, lässt sich in der Praxis einfach nicht umsetzen. Das wird dann toxisch für Eltern.“ Und schob nach: „Wir müssen nicht beschämt sein, wenn wir mal unsere Kinder anschreien oder uns anderweitig falsch verhalten. Niemand ist perfekt. Ich möchte Ihnen nur Impulse mitgeben, Sie aber nicht belehren.“
Noch immer ein Tabuthema
Der Titel ihres neuen Buches „Bindung ohne Burnout – Kinder zugewandt begleiten, ohne auszubrennen“ beschreibe immer noch ein Tabuthema, „denn Schätzungen zufolge ist jede fünfte Mutter akut ausgebrannt.“ Kinder, Partnerschaft, Beruf, Haushalt und vieles drumherum wolle unter einen Hut gebracht werden, dazu auch noch perfekt. „Für uns Frauen fühlt sich der Familienalltag an, als würde man ein zu kleines Spannbettlaken über eine zu große Matratze stülpen wollen.“ Die Referentin erhalte viel Post von besorgten Müttern, „weil das Stillen ihres Neugeborenen nicht geklappt hat, das Kind per Kaiserschnitt geboren ist, was die Mutter-Kind-Bindung beeinträchtigt oder sie das Babyfon nicht gehört hat, weshalb das Baby womöglich lange geweint hat. Man braucht kein schlechtes Gewissen haben.“
Als Fundament für eine gelingende Eltern-Kind-Beziehung nannte Nora Imlau die Bindungsstabilität dieser Fürsorgegemeinschaft. „Dazu braucht es kein Gold und Glitzer, nur eben Liebe und Fürsorge.“ Die Familienexpertin blendete zurück in die frühere gesellschaftliche Erziehungsdiktatur, mit verordneter stoischer Härte und wenig mütterlicher Wärme samt Prügelstrafen, mit dem Ziel gehorsamer Kinder. „Die wissenschaftlichen Expertisen hatten damals aber ausschließlich Männer geschrieben“, merkte sie an. Diese seelische Deformation in Folge von vernachlässigten Bedürfnissen habe Kinder teils auch grausam werden lassen. „Kinder brauchen Bindungen. Sie brauchen bedingungslose Fürsorge, Liebe und Geborgenheit. Und das hört im Erwachsenenalter nicht auf. Bindung ist ein Lebensthema. Aber Bindung heißt auch für Eltern, mal Nein zu sagen“, betonte die vierfache Mutter.
Keine detaillierte Checkliste
Mit einer detaillierten Checkliste für Eltern wolle sie nicht dienen. Den anwesenden Eltern gab Nora Imlau mit auf den Weg: „Streben Sie keinen Bindungsperfektionismus an. Lassen Sie die Fünf gerade sein. Wir müssen unseren Kindern keine perfekte Kindheit schenken, sonst zerreißen wir uns.“ Sie verglich Bindung in der Widerstandsfähigkeit mit einem Seemannstau. Dieses bestehe aus tausenden einzelnen Fasern, und kann immer wieder repariert werden.
„Urspring ist ein Ort, mit dem mich so viel verbindet“, hatte Nora Imlau einleitend erklärt, warum sie die Einladung an die Urspringschule angenommen hatte. „Ich habe mit meinen Eltern zehn Jahre hier gelebt, weil sie eine Mädchenwohngruppe betreut haben.“ Stiftungsvorstand Dr. Rainer Wetzler hatte Urspring kurz vorgestellt. Nico Drmota, Öffentlichkeitsreferent der Urspringschule, schloss in seinen Dank die AOK Ulm-Biberach als Kooperationspartner des Vortrags von Nora Imlau ein.
Renate Emmenlauer | EHINGER TAGBLATT | 26.11.24
Bilder: Nessi Gassmann